Bindung ist ein hypothetisches Konstrukt. Sie bezeichnet die Neigung enge emotionale Bindungen (1) aufzubauen und (2) aufrecht zu erhalten. Eine Manifestation findet auf Verhaltensebene statt.
⇒ Konsequenzen für (1) Persönlichkeitsentwicklung und (2) psychische Gesundheit
Sicher-balanciert → Bei Rückkehr freudig, suchen Körperkontakt (vertrauen auf Regulation der Mutter), Explorationsverhalten
Unsicher-vermeidend → Bei Rückkehr keine Kontaktaufnahme (emotionale Distanz von der Mutter)
Unsicher-ambivalent → Bei Rückkehr Ärger und ungewöhnliche Passivität, Kontaktsuchend & gleichzeitig widersetzend (Handlungen der Mutter sind für das Kind meist schwer zu deuten)
Desorganisiert → Bei Rückkehr verwirrt, deprimiert (Mutter als Bedrohung, bei Misshandlung)
⇒ Klassifizierung im Fremde-Situations-Test (FST), kindliches Verhalten
Siehe auch Bindungsqualitäten und ihre Messung.
Zentrale Fragen in der Bindungsforschung sind:
Wann entwickeln sich erste Bindungen?
Was ist das Ziel/Funktion von Bindungsverhalten?
In welchen Situationen wird Bindungsverhalten aktiviert
Verändern sich Bindungsstile im Lebenslauf?
Welcher Mechanismus garantiert Stabilität?
In der frühen Kindheit erfolgt Emotionsregulation überwiegend durch Unterstützung von Bindungspersonen.
⇒ Emotionsregulation durch Bindungsperson
Emotionale Störungen entstehen in Folge von Interaktion mit Bindungspersonen. Vor allem bei:
Frühere Störungen können eine hohe Bedeutung für den Lebenslauf haben. Kinder sind dabei jedoch keine passiven Empfänger äußerer Einwirkungen. Ungünstige Wirkfaktoren können Störungen begünstigen. Ungünstige Wirkfaktoren können jedoch auch durch positive Einflüsse kompensiert werden.
“[…] sind durch die (1) Normabweichung hinsichtlich Alter, Geschlecht, Erwartungen der Gesellschaft und/oder durch die (2) Beeinträchtigung der Betroffenen, durch persönliches Leiden, soziale Einengung, Behinderung der Entwicklung bzw. durch negative Auswirkungen auf andere bestimmt.“
Im Diathese-Stress-Modell von Rutter (1985) wird davon ausgegangen, dass zu einem (1) Risikofaktor zusätzlich (2) Umweltstressoren wirken müssen, damit eine beeinträchtigte Entwicklung ausgelöst oder verstärkt wird. (3) Schutzfaktoren können einer negativen Entwicklung entgegenwirken.
Es wird davon ausgegangen, dass der (1) Beitrag der frühen Eltern-Kind-Beziehung und der sich daraus entwickelten (2) Bindung einen wichtigen (3) Einfluss auf die weitere Entwicklung hat.
Balance zwischen Bindung und Exploration:
Ein desorganisierter Bindungsstil zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
Widersprüchliches Verhalten → z.B. ausgestreckte Arme, gesenkter Kopf
Ungerichtete, fehlgerichtete, unvollständige, unterbrochene Bewegungen/Ausdrücke
Stereotypien, Asymmetrie von Bewegung/Ausdruck → Ungewöhnliche Körperhaltungen, zeitlich unabgestimmtes Verhalten
Eingefrorene, plötzlich erstarrende, verlangsamte Bewegungen/Ausdrücke
Direkte Ablehnung der Bezugsperson, Desorganisation, Desorientierung
Im ICD-10 sind Bindungsstörungen unter F90-F98 „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ klassifiziert:
(1) Störung beginnt vor dem 5. LJ., (2) Anhaltende Auffälligkeiten im sozialen Beziehungsmuster
Symptome: (1) Furchtsamkeit, (2) Übervorsichtigkeit, (3) Eingeschränkte soziale Interaktion mit Peers, (4) Aggressionen gegen sich selbst/andere, (5) Unglücklichsein, (6) Manchmal Wachstumsverzögerung
(1) Ansprechbarkeit mit Erwachsenem beobachtbar, (2) Reaktion auf Wechsel der Milieuverhältnisse
Wahrscheinlich Folge (1) elterlicher Vernachlässigung, (2) Missbrauch, (3) schwere Misshandlung
Störung beginnt vor dem 5. LJ.
Spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster → Tendenz trotz Änderungen in Milieubedingungen zu persistieren
Diffuses nichtselektives Bindungsverhalten → * z.B. bei Traurigkeit keine Trostsuche, wahllose Kontaktsuche
(1) Klammerverhalten, später auch (2) Aufmerksamkeit heischen, (3) wahllos freundliches Verhalten, (4) kaum modulierte Interaktion mit Gleichaltrigen
Eventuell emotionale Störungen / Verhaltensstörungen
Soziale Deprivationserfahrung → Wechsel/Mangel an Interaktion mit Bezugsperson (keine klaren Erwartungen)
Mangelnde Fürsorge → Ausreichend Kontakt, Emotionsregulation mit Hilfe der Betreuungsperson wird nicht gelernt
Das Steep (Steps towards effective, enjoyable parenting) ist ein bindungstheoretisch fundiertes Interventionsverfahren .
Ausgangspunkt → Einige Kinder entwickeln sich trotz Risikofaktoren normativ (sichere Bindung zu mind. einer Person)
Zeitrahmen → Letztes Drittel der Schwangerschaft bis 2. Geburtstag
Zielgruppe → Hoch belastete Frauen
⇒ Seit 2001 in Deutschland
Feinfühligkeit optimieren
Eigene Bindungsrepräsentationen reflektieren
Soziale Unterstützung und Netzwerke aufbauen → Kontakte herstellen (z.B. zu Hilfsmöglichkeiten)
Wissen vermitteln, angemessene Erwartungen aufbauen
Wahrnehmung der Befindlichkeit des Säugling
Richtige Interpretation der Äußerungen
Promote Reaktion
Vorhersehbarkeit/Angemessenheit der Reaktion
Eigene Pläne
Verhaltensebene → Umgang mit Video aufnehmen, gemeinsames betrachten
Repräsentationsebene → Elterliche Arbeitsmodelle werden aufgespürt und thematisiert
Soziale Unterstützung → Für Eltern, z.B. Gruppenangebot
Beratende Beziehung → Bindungsmodelle ändern sich vorwiegend in bedeutsamen Beziehungen (Balance zw. Natürlichkeit/Zugewandtheit und Distanz/Reflektiertheit)
Information und Wissen → Falsche Überzeugungen ablegen (z.B. bzgl. Verwöhnen, Sprechen, etc.)
Zunehmende institutionalisierte Verankerung (je tiefer, desto mehr institutionalisiert):
Betreuer | Fälle in denen Betreuer
genutzt wird | Durchschnittliche Betreuungszeit
(pro Woche) |
Enge Familie |
Mutter | 100% | |
Vater | 76% | 13h |
Geschwister | 7% | 8h |
Bekannte, größere Familie |
Großeltern | 46% | 10h |
Andere Verwandte | 10% | 5h |
Freunde/Nachbarn | 9% | 4h |
Extern |
Kinderfrau/Kindermann | 3% | 15h |
Tagesmutter | 2% | 24h |
Babysitter | 2% | 5h |
Krippe | 2% | 16h |
Externe Betreuung (Institutionalisiert) bei Kindern unter 3:
Land | > 30h | < 29h | Keine |
Deutschland | 7% | 11% | 82% |
Polen | 2% | 0% | 98% |
England | 5% | 28% | 67% |
Frankreich | 18% | 13% | 69% |
Dänemark | 66% | 6% | 28% |
Kindliche Perspektive → Bindung zu Mutter, Investitionsbereitschaft, Kognitive/Sprachliche Stimulation, Sozial-emotionale Erfahrung mit Peers, Außerfamiliäre Erwachsene
Elterliche Perspektive → Wirtschaftliche Notwendigkeit, Selbstverwirklichung
Sozialpolitische Perspektive → Arbeitsmarktpolitisch, Soziale Gerechtigkeit (Chancengleichheit, Bildungsauftrag)
“[…] um eine gute Fürsorge von Kleinkindern im vorsprachlichen Alter zu gewährleisten, muss man deren Bindungsbedürfnisse verstehen und befriedigen.“
Noch keine individuelle Bindung
Differenzierte personenbezogene Wahrnehmung
Versorgung an Säuglingsbedürfnissen orientiert → Prompt, Vorhersagbar, gut abgestimmt
⇒ Trennung führt zu keiner spontanen Trennungsreaktion
Aber:
Wenn (1) gewohnte Rhythmen und (2) vertrauter Versorgungsmodus ausbleibt, kann das negative Folgen haben:
Missstimmung
Anspannung
Ess-/Schlafstörungen
Angst vor fremden Menschen → Mit Beginn der Fortbewegung
Soziale Bezugnahme
Bindungsperson ist Ausgangspunkt/Fluchtpunkt → z.B. Ausgangspunkt für Exploration, Fluchtpunkt bei Angst
Geistige Vorstellung von vertrauten Personen/Gegenständen → Auch außerhalb des Wahrnehmungsfeldes
⇒ Ungewollte Trennung führt zu Trennungsangst (inkl. physiologische Stressreaktion)
Kind lernt kleine Frustrationen/Trennungen auszuhalten
Durch Abmilderung starker neg. Gefühle werden diese erträglich
Angemessener Gefühlsausdruck durch Anleitung
Förderung der Explorationsfreude/Konzentration durch Angebote
Förderung der Selbstständigkeit durch Zurückhaltung
„Soll das Kleinkind am Ende des ersten Lebensjahres unvermittelt von einer anderen Person, eventuell sogar in fremder Umgebung und zwischen lauter fremden Kindern, betreut werden, so verliert es plötzlich alles, was ihm vorher Sicherheit gab: die Person, die seine vertraute Sicherheitsbasis und sein Fluchtziel war. Nur sie kann ihm bei der Emotionsregulation helfen, sie kann ihm Angst und Unsicherheit nehmen und sie gibt ihm Rückversicherung für seine Exploration.“ (Grossmann & Grossmann, 1998, p. 73).
⇒ Keine abrupte Eingewöhnung!
⇒ Die Art der Eingewöhnung entscheidet über gelingen!
Sicher
→ Anfangs verschlossen, ängstlich, irritierbar, häufiges Weinen, Abwehr
→ Zunehmend offener, weniger emotional belastet
Unsicher-vermeidend
→ Anfangs scheinbar angepasst, wenig emotional belastet
→ Zunehmendes Abseitsverhalten, Unkonzentriertheit, Schwierigkeit, eigene Gefühle, Kontakt aufzunehmen
Unsicher-ambivalent
→ Schwierige Eingewöhnung, Protestweinen
→ Keine/Kaum Beruhigung möglich
Orientierung/Interpretation der neuen Situation → Kind überträgt Erfahrungen mit Bezugsperson auf neue Interaktionspartner
Gefahr differentiellen Verhaltens der Erzieher*innen → Verfestigung des internen Arbeitsmodells
Chance zur Verbesserung dysfunktionaler interner Arbeitsmodelle → Wenn vorher keine sichere Bindung möglich war
Im Berliner Modell sind Hinweise für Erzieher*innen enthalten. Diese betreffen z.B. die Wahl der Länge der Eingewöhnungszeit (kurz, ca. 6 Tage oder lang ca. 2-3 Wochen).
„Klare Versuche der Kinder selbst mit Belastungssituationen fertig zu werden und sich dabei nicht an die Mutter zu wenden, eventuell sogar Widerstand gegen das Aufnehmen, wenige Blicke zur Mutter und seltene eher zufällig wirkende Körperkontakte sprechen für eine kürzere Eingewöhnungszeit.“
„Eltern und Lehrer können leicht dazu verführt werden, die Eingewöhnungszeit für diese Kinder, die nicht viel Trennungsleid zeigen, zu kürzen, weil sie anscheinend weniger Probleme beim Übergang haben.“
Kinder, welche nicht viel Trennungsreaktion zeigen sind doppelt benachteiligt:
In einer prospektiven Längsschnittstudie wurden 76 Kinder 12 Monate vor und nach dem Krippeneintritt untersucht. Dabei wurden die Bindungsqualität (sicher/unsicher) erhoben.
Mütterliche Feinfühligkeit
Alter bei Krippeneintritt
Abruptheit der Eingewöhnung → Dauer der Eingewöhnung, Tägliches Maß der Steigerung der Dauer, Tägliche Reduzierung der mütterlichen Abwesenheit
Qualität der Einrichtung → Erzieher, Einrichtung, Betreuer-Kinder-Schlüssel
Tägliche Anwesenheitsdauer in der Krippe
Als Prädiktoren konnte ausgemacht werden:
Ergebnisse einer großangelegten Studie aus den USA ergaben als Ursache für Verhaltensprobleme:
Umgangsstil der Eltern hat größten Einfluss → Höherer Einfluss als außerfamiliäre Betreuung
Kombination von Risikofaktoren zu Hause / Einrichtung → Unsensibel zu Hause, Schlechte Tagesbetreuung, Viele Stunden in der Einrichtung, Mehr als eine außerfamiliäre Betreuung
Kompensation durch hochwertige Fremdbetreuung möglich
Je früher Kinder extern betreut werden, desto eher Verhaltensauffälligkeiten mit 12 Jahren
„The results of this study clearly indicate that child care by itself constitutes neither a risk nor a benefit for the development of the infant-mother attachment relationship as measured in the Strange Situation […]“ (p. 877).